Autor: Friedhelm Röttger
Ein Originalbeitrag anlässlich
des 100-jährigen Jubiläums 2019
Bedeutete für Gottfried Haaß-Berkow die Bühne eine „Pforte der Erkenntnis“, trachtete sein Nachfolger Wilhelm List-Diehl, ein mit allen Wassern Thalias gewaschener Intendant, Regisseur und Schauspieler, danach, die Spannweite des Theaters in ihrer Gesamtheit zu erfassen. Kein „tiefschürfendes“ Programm, keine „philosophische Leitidee“ sollte seinen Spielplan einengen. Sein Motto lautete: „Gutes Theater spielen, unter Berücksichtigung von Werken jeder Art, aller Zeiten und Völker in alljährlich neuer geschickter Mischung.“ (Zitat aus dem unten erwähnten Brief von Urs Helmensdorfer, 1963).
1915 in München geboren als Sohn eines Sanitätsrats, besuchte er die Handels-Akademie Innsbruck, war als Journalist tätig, studierte Theatergeschichte, absolvierte in Wien und Berlin eine Ausbildung als Schauspieler und Sänger, war Assistent am Wiener Burgtheater, sodann Regisseur, Dramaturg und Schauspieler an den städtischen Bühnen im polnischen Lodz, schließlich Chefdramaturg und Oberspielleiter im mährischen Olmütz. Vor seiner Esslinger Intendanz leitete er das Schwäbische Landesschauspiel in Memmingen (heute Landestheater Schwaben). Urs Helmensdorfer, zwei Jahre lang Dramaturg unter List-Diehl, betont in einem 1963 verfassten Brief an seinen scheidenden Chef dessen Vorzüge: „Sie kannten alle Sparten des Theaters, alle Geschäfte der Intendanz – nicht allein aus der Perspektive des anweisenden hohen Chefs, nein, auch vom Blickpunkt des ausführenden Organs her. Sie waren erprobt als „Prinzipal“. Sie waren robust, um Püffe zu ertragen, und notfalls auch austeilen zu können. So vermochten Ihnen in Esslingen weder Darsteller noch Spielleiter, weder Dramaturg noch Technik etwas vorzumachen, auch nicht die Verwaltung, da Sie zu den wenigen Theaterleitern gehören, die das Wirtschaftliche nicht als notwendiges Übel betrachten (…).“ Die Unart mancher Prinzipalen, „ihr“ Theater ausschließlich als private Spielwiese und Karriere-Sprungbrett zu missbrauchen, kannte List-Diehl nicht.
Er bestand auf Pflichten, aber nicht minder trat er für soziale und ökonomische Rechte seiner Schauspieler, Techniker und Angestellten ein: So hob er das Niveau der Gagen seines Ensembles um mehr als hundert Prozent, gewährte – ein Novum und einmalig in der Bundesrepublik – ein volles 13. Gehalt und, über den tariflichen Urlaub von fünf Wochen hinaus, „als Kompensation für die strapaziöse Arbeit einer Landesbühne“, einen weiteren ein- bis zweiwöchigen Urlaub – sehr zur Freude der „Genossenschaft Deutscher Bühnenangehöriger“ und, so ist zu vermuten, zum Leidwesen der Gruppe der Landesbühnen-Intendanten, die das vorbildliche List-Diehlsche Modell nicht übernehmen konnten oder wollten.
Die Verdienste von List-Diehl, der nach seiner Esslinger Intendanz das Staatstheater Oldenburg übernahm, würdigte Dieter Roser, Esslingens damaliger Oberbürgermeister und Vorsitzender des Vorstands der Württembergischen Landesbühne, in seinem „Abschiedsbrief“, in den er auch den scheidenden Oberspielleiter Heinz Hofer einbezog: „Wilhelm List-Diehl (…) hat es verstanden, der Württembergischen Landesbühne im Lauf seiner zehnjährigen Tätigkeit einen beachtlichen und eigenen Rang zu sichern und durch geschickte Spielplangestaltung, in die er – für die Landesbühne erstmalig – auch musikalische Werke einbezogen hat, den Kreis der Besucher ständig zu erweitern.“
Musiktheater an der WLB: ein mutiger, gewagter, wenn nicht sogar verwegener Schritt, denn in der Theaterscheuer in der Strohstraße gab es weder ein eigenes Orchester noch einen festen Stamm von Sängerinnen und Sängern. Dagegen gab es den Kapellmeister Werner Krause, von dem Martin Kalliga, damals Feuilleton-Redakteur der Eßlinger Zeitung, mit Blick auf eine „Fledermaus“-Inszenierung behauptete, Krause leiste am Dirigentenpult eine Arbeit, „die nur der Eingeweihte ganz ermessen kann“. Ansonsten musste das Gros des Musiktheaters jeweils neu engagiert werden – auf eigenes Risiko, denn für ein mehrspartiges Theater gab es keinerlei extra Zuschüsse; List-Diehl musste für sein erweitertes Programm mit demselben Etat auskommen wie sein Vorgänger Gottfried Haaß-Berkow. Doch gab der sich bald einstellende Erfolg dem Wagemutigen recht: Bereits in der Spielzeit 1956/57 konnte die WLB 65 Prozent der Ausgaben durch Eigeneinnahmen decken, womit der Beweis erbracht war, dass, wie Urs Helmensdorfer schrieb, die „Landesbühne eines der wirtschaftlichsten, wenn nicht das rentabelste Subventionstheater geworden war“.
Diese Überzeugung teilte auch die Eßlinger Zeitung, die in ihrer Ausgabe vom 23. Mai 1956 der WLB unter der Intendanz von Wilhelm List-Diehl ein gutes Zeugnis ausgestellt und attestiert hatte: Seit 1953 „hat die Bühne einen so imponierenden Aufschwung genommen, dass man von einem Höchststand sprechen darf“. Die Besucherzahl in Esslingen stieg von 29 445 auf 45 640 an, die der auswärtigen Gastspiele von 77 242 auf 150 319: „Das sind in Esslingen über 16 000 Besucher mehr und im Land 73 000. In zwei Jahren! Damit ist die alte pessimistische These von den Esslingern, die nicht gerne in ihr eigenes Theater gehen, widerlegt (…). Das künstlerische Niveau der Landesbühne wird gekennzeichnet durch das Programm des Spielplans für die Saison 1956/57“. So kündigte das Jahresheft 56/57 folgende Klassiker an: Goethes „Faust I“, Shakespeares „Sommernachtstraum“, Lessings „Nathan der Weise“ und Carlo Goldonis „Fächer“. Näher an die Gegenwart führten den Theaterbesucher naturalistische Stücke und soziale Dramen wie Hauptmanns „Vor Sonnenaufgang“ und Henrik Ibsens immer noch aktuell anmutendes Drama „John Gabriel Borkman“. Neben Lustspielen (Curt Goetz, Ludwig Thoma), Stücken von Gegenwartsautoren (Ustinov, Patric, Priestley) gab es Musiktheater, „Die Fledermaus“, „Das Schwarzwaldmädel“ und „Das Blaue vom Himmel“, eine Komödie mit Musik von Friedrich Hollaender. Für Mozarts „Entführung aus dem Serail“ musste der Orchestergraben abgesenkt werden, damit künftig weder ein Kontrabass noch der Kopf des Dirigenten die Sicht der Zuschauer behinderte.
Die Württembergische Landesbühne wurde aber auch Zielscheibe bissiger, besserwisserischer Polemiken. Der Anlass: Presse-Vorberichte und das WLB-Programm hatten übereinstimmend auf die Schiller-Premiere am 8. Januar 1956 hingewiesen. Gespielt werden sollte, die herkömmliche Schreibweise „missachtend“, „Dom Karlos. Infant von Spanien“ (und nicht „Don Carlos“). Dagegen hielten etliche Abonnenten der WLB, bezichtigten die Dramaturgie gar der Schlamperei, und schickten den mit Rotstift korrigierten Theaterzettel zurück mit der Bemerkung „So ebbes Dommes, gleich hinter’m Schillerjahr“ (1955; 150. Todestag von Schiller, Anm. d. Verf.). Eine Glosse, abgedruckt in der Eßlinger Zeitung vom 5. Januar 1956, klärte aufgebrachte Zuschauer und Leser auf: „(…) nach mehr als 100 Jahren (wird) wieder jene Prosafassung der ,Geschichte des Dom Karlos, Prinzen von Spanien’ gespielt, die Schiller als Bühnenbearbeitung seines Jamben-Dramas für die erste Aufführung im Jahr 1787 hergestellt hat. Bis in den Anfang des 19. Jahrhunderts wurde diese Fassung von einigen großen Bühnen gespielt, seitdem aber nicht mehr“. Dass dabei Schiller die spanische Anrede „Don“ mit der portugiesischen „Dom“ verwechselt hatte, tut nichts zu Sache. Für den Kommentator war der Fall klar Es liegt kein Druckfehler vor; vielmehr ist der anstößige Dom Karlos „ein Akt der Höflichkeit gegen den Verfasser, ebenso wie die Tatsache, dass die Württembergische Landesbühne nicht die gebräuchliche Fassung (…) zur Aufführung bringt, sondern auf Schillers eigene Bühnenbearbeitung zurückgreift“. Die Auflösung des jambischen Versmaßes zugunsten einer Prosaversion dient einem höheren Zweck: Sie „rauht die Sprache auf, und lässt die in diesem Drama wehenden Leidenschaften unmittelbarer in sie einströmen. List-Diehls Kunst bestand darin, die großen Gefühlsaffekte aus Schillers Werk herauszuholen“, schreibt Hermann Dannecker, Korrespondent der Ulmer Südwest Presse, in einem Aufsatz über die WLB.
Neben dem Musiktheater galt Wilhelm List-Diehls – wie eingangs schon erwähnt – besondere Aufmerksamkeit den alten und zeitgenössischen „Klassikern“. Dem Einwand, warum nicht vermehrt Neues und Neuestes gespielt wird, begegnete List-Diehl mit der Gegenfrage: „Kennen wir denn das ,Alte’ gut genug? Ist das Alte, wenn es wahrhaft klassisch ist, das heißt beispielhaft und gültig ist, nicht immer neu? Und hat nicht jede junge Generation das Recht, mit den Hauptwerken der dramatischen Literatur bekanntgemacht zu werden?“ Als gelungene Beispiele sind zu nennen die schon erwähnte Inszenierung von „Dom Karlos“ in der Prosafassung von 1787, Lessings „Nathan“, Calderóns „Der Richter von Zalamea“ und Goethes „Hermann und Dorothea“ in der Bühnenbearbeitung von Ludwig Berger. Unter den Autoren des 20. Jahrhunderts fehlen Hauptmanns Stück „Die Ratten“ ebensowenig wie Dürrenmatts „Ehe des Herrn Mississippi“, uraufgeführt zu Beginn der fünfziger Jahre an den Münchner Kammerspielen.
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Schließlich ein Kapitel für sich: Wilhelm List-Diehl und Bertolt Brecht, dem „stärksten, einflussreichsten und radikalsten Theatermann unserer Zeit“, an dem, schreibt der britische Regisseur Peter Brook weiter, niemand vorbeikomme, „der sich ernsthaft mit dem Theater beschäftigt“, denn „Brecht versagt sich der romantischen Auffassung, dass wir im Theater alle wieder zu Kindern werden“. Als List-Diehl 1958/59 Brechts „Der gute Mensch von Sezuan“ inszenierte, gab es Einwände. Es sei ein „Wagnis“, ein derart „heißes Eisen“ anzufassen. List-Diehl trotzte solchen Warnungen mit der klugen Bemerkung, über eine Materie könne man erst dann urteilen, wenn man sie kennt. Brechts Theorie vom „epischen“ Theater interessierte ihn so wenig wie dessen Verfremdungstheorie – für List-Diehl nicht mehr als „Schlagworte“. Seine Überzeugung entsprach Brechts (späterer) Revision seiner „anfänglich überbetonten Ablehnung des Gefühls bei Darsteller und Zuschauer“. Der „Gute Mensch“ und „Der kaukasische Kreidekreis“ waren „dramatisch“ im besten überkommenen Sinn: „mit Leidenschaft und Herztönen“. List-Diehls Brecht-Interpretation war bald über Esslingen hinaus gedrungen. „Die Württembergische Landesbühne“, schrieb im August 1961 Johannes Jacobi, Theaterkritiker von „Theater heute“ und später der „ZEIT“, „steht mit diesen beiden Inszenierungen ihres Intendanten mitten in der allgemeinen Diskussion: Wie kann man Brecht im Westen spielen, ohne klassenkämpferische Propaganda zu treiben?“ Wilhelm List-Diehl versuchte es mit Erfolg; Propaganda auf der Bühne lag ihm fern.
Mit Leidenschaft und Herztönen: Nicht nur der Regisseur, sondern auch der Schauspieler List-Diehl war dieser doppelten Maxime verpflichtet. Befragt in einem Interview, das er kurz vor seinem Abschied von der WLB der Eßlinger Zeitung am 13. Juli 1963 gab, welche Rollen für ihn von besonderer Bedeutung waren, antwortete er: „Die erste Rolle und die letzte“. In seiner ersten verkörperte er die Figur des Verteidigers Greenwood in Herman Wouks Stück „Meuterei auf der Caine“, in seiner letzten die des 80-jährigen Sam Kinsale in Peter Ustinovs „Endspurt“. Ein politisches, zugleich ein Gewissensstück das erste, entfernt erinnernd an Zuckmayers Theaterstück “Des Teufels General“: „Wann darf (oder muss) ein Befehl verweigert werden? Wo setzt das Recht (oder die Pflicht) zur Meuterei ein, in dessen Verlängerung das Recht zum Hoch- und Landesverrat steht?“ (SPIEGEL 1952); ein Stück persönlicher Abrechnung das zweite, in dem ein 80-jähriger Mann auf seine verflossenen Lebensalter zurückblickt.
Schatten blieben nicht aus. Sams Ehefrau wurde gespielt von Marianne Simson, seit 1958 Ehefrau von Wilhelm List-Diehl. 1920 in Berlin geboren, ausgebildet im Klassischen Tanz, Tänzerin am Berliner Nollendorftheater, am dortigen Deutschen Opernhaus und, 1939, am Staatstheater unter Gustaf Gründgens, denunzierte sie 1944 als 24-Jährige Fritz Goes, einen damaligen Major der Wehrmacht. Er habe sich, behauptete Marianne Simson, in ihrer Gegenwart positiv zum Attentat auf Hitler geäußert. Dem sicheren Todesurteil durch den Volksgerichtshof entging Goes nur wenige Tage vor Beginn des Prozesses: Roland Freisler, Hitlers schärfster und gehässigster „Blutrichter“, war 1945 bei einem Bombenangriff auf Berlin ums Leben gekommen. Im Gegenzug wurde Marianne Simson zusammen mit ihren Eltern von der Operativen Gruppe des NKWD, der Geheimpolizei des Innenministeriums der UdSSR, verhaftet und wegen Kollaboration mit der Gestapo zu einer achtjährigen Zuchthausstrafe verurteilt, von der sie sieben Jahre absitzen musste. 1953 erhielt sie ihr Engagement an der Württembergischen Landesbühne.
Mit großer Wahrscheinlichkeit ist der tatsächliche Umfang von Marianne Simsons inkriminierter Biografie nie in Esslingen publik geworden. Aktenkundig wurde ihr Name erst im Zusammenhang mit ihrem Antrag auf Lastenausgleich für die Zeit ihrer sowjetischen Gefangenschaft. Ihren ersten Revisionsprozess, den sie 1961 gegen das Landratsamt Esslingen führte, hatte sie verloren; ihren zweiten, um auch vor dem Bundesverwaltungsgericht in Revision gehen zu können, offenbar gewonnen.
Ohne Zweifel spielen auf diesen Hintergrund Wilhelm List-Diehls scheinbar kryptischen Sätze an, die er unter dem Motto „Liebeserklärung an eine Fünfzigerin“ – gemeint ist die WLB, die im Jahr 1969 ihr 50-jähriges Bestehen feierte – in der Festschrift „Württembergische Landesbühne 1919 – 1969“ in der Art eines fiktiven Briefs verfasst hat.
Liebeserklärung an eine Fünfzigerin
Geliebte Württembergische Landesbühne,
erinnerst Du Dich noch, als wir im Liebesmonat Mai 1953 unsere „Ehe“ begannen? 114 Troubadours, Mitbewerber um Deine Gunst, hatte ich aus dem Felde zu schlagen, bis Du im Alten Rathaus von Esslingen mir Dein „Ja“ gabst. Es war nicht „Liebe auf den ersten Blick“, die uns zwei fast gleichaltrige Partner in reiferen Jahren zusammenkommen ließ; eher kühles Abwägen, daß wir mit der Zeit füreinander taugen könnten. Wie in einer richtigen Ehe rauften wir uns zusammen. „Der Schinderhannes“ zähmte fürs erste meine Widerspenstige, die sich im „Gyges“ bereits inniger an mich schmiegte. Und dann waren wir zehn Jahre ein unzertrennliches Paar. Natürlich stoben zwischendurch die Funken, Du knurrtest und zeigtest mir die Zähne – ich gab Dir die Sporen. Aber in welcher guten Ehe fehlt das Salz?
Ich hatte Dich von einem Manne „übernommen“, der Dich zwanzig Jahre auf seine Weise liebte und Dich im Haaß-Berkowschen Sinn erzogen hatte. Das waren „gute, alte Zeiten“ für Dich, denn er war ein gütiger, ein gescheiter, ein braver Mann. Er trennte sich von Dir, um als Fünfundsechziger ein ruhigeres Leben ohne Dich zu führen.
Ich, der damals Achtunddreißigjährige, brachte nun wieder Unruhe in Dein zufriedenes, stiller gewordenes Leben. Hattest Du Dich bisher dreihundertmal im Jahre vor Deinem Publikum gezeigt, mußtest Du Dich nun im Laufe Deiner Ehe mit mir (mit Hilfe von Kurt Lohbusch, Franz Dransfeld, Otto Mais und last not least Ilse Zschweigert) fünfhundert- bis sechshundertmal jährlich vor unseren Freunden verneigen. Du blühtest wie eine junge Frau in der Hoch-Zeit ihrer Liebe auf, wurdest noch schöner, stattlicher und reicher in Deinen Mitteln, üppiger in Deinen Gaben. Ich eilte mit Dir durch die Schönheiten der württembergischen Lande, wir erschlossen uns neue Freunde, bezaubernde Städte und Gemeinden öffneten uns ihre Tore, schlossen uns in die Arme.
Du hast immer, auch bevor wir uns kennenlernten, für gutes Schauspiel geschwärmt, aber erinnerst Du Dich noch, daß ich Dir gleich zu Anfang unserer Ehe musikalischen Unterricht durch Werner Krause geben ließ, daß damit Oper und Operette in Dein Leben traten? Weißt Du noch, wie das Quartett Werner Krause, Heinz Hofer, Marianne Simson und ich mit Dir musizierten, inszenierten und diese Interpretationen im tänzerischen auflösten? Wir fanden uns mit Dir im „Land des Lächelns“ und „Weißen Rößl“. Wir machten „Heimliche Ehe“ mit Dir, spielten mit Dir „Entführung“ und liebten uns bei „Figaros Hochzeit“, „Wiener Blut“ brachte ich Dir bei, und als es Zeit wurde, verabschiedete ich mich von Dir musikalisch-regielich nicht als, sondern mit Verdis „Troubadour“.
Als wir dann bereits im Abschiedsschmerz seufzten, mutete ich Dir noch „Die Ratten“ zu; nicht jene, die das Schiff verlassen, sondern die von Hauptmann, um mich dann im „Endspurt“ endgültig von Dir loszureißen. Damit war das Jahrzehnt unserer Ehe zuende – nicht unsere Liebe, zumindest nicht von meiner Seite. Die Erinnerung ist doppelt so schön, heißt es. Wenn ich daran denke, wie Du Dich willig meinen Brecht-Inszenierungen „Der gute Mensch von Sezuan“ und „Der kaukasische Kreidekreis“ beugtest, wie Du mitgeholfen hast, „einen neuen Schiller-Stil“ in meinen Schiller-Inszenierungen zu erarbeiten, dann wird es mir ganz warm ums Herz.
Irgendein „Offizieller“ hat einmal behauptet, ich hätte Dir das beste Jahrzehnt meines Lebens „geopfert“. Mag sein, aber es war herrlich, dieses Jahrzehnt! Ich möchte es nicht missen. Gott hat es weise eingerichtet, daß in der Erinnerung besonders das Schöne haften bleibt. Sicher, wir beide hatten auch schwere Tage, sogar schwarze Zeiten miteinander. Ich erinnere mich, daß zeitweise von außen her Intoleranz und Instinktlosigkeit für menschliche Schicksale mir das Leben schwer machten. Fröhliche Geister waren es jedenfalls nicht, die mich von Dir und dem Lande meiner Vorväter freiwillig Abschied nehmen ließen. Schwarze Tage waren es auch, als einer unserer saubersten und intelligentesten Mitarbeiter, Hans-Georg Hörburger, tödlich verunglückte oder als Heinz Hofer, den Du auch in Dein Herz geschlossen hattest, und der Dir als Oberspielleiter fast zwanzig Jahre seines Lebens schenkte, todkrank darniederlag und er uns nur durch die ärztliche Kunst von Dr. Simon-Weidner wiedergegeben wurde.
Nun verlangt man heute von mir, an Deinem fünfzigsten Geburtstag, daß ich über mein „Verhältnis“ und meine Erfolge mit Dir nachträglich berichte. Da ich nicht zu den Menschen gehöre, die aus der Intimsphäre einer Liebe berichten können und auch kein Freund von Selbstbeweihräucherung bin, überlasse ich dem Chronisten dieses Handwerk . . .
Geliebte, es ist nun genug geplaudert von alten Zeiten. Das Nachdenken darüber und die Erinnerung stimmen mich elegisch. Obwohl ich Dich verlassen habe, spüre ich so etwas wie eifersüchtigen Schmerz: Du hast einen neuen Mann, wieder einen jüngeren.
Wie damals als ich kam. Das soll bei reifer werdenden Damen vorkommen.
Trotzdem habe ich immer noch ein Faible für Dich, mehr noch. Heute, an Deinem fünfzigsten Geburtstag, gestehe ich Dir meine stille, immerwährende Liebe.
Es umarmt Dich, Dein Wilhelm List-Diehl
(Wilhelm List-Diehl, in: Festschrift „50 Jahre Württembergische Landesbühne 1919-1969“, Hervorhebung Friedhelm Röttger)