Autor: Friedhelm Röttger
Ein Originalbeitrag anlässlich
des 100-jährigen Jubiläums 2019
Die Amtszeit von Joachim von Groeling fällt mitten hinein in die politisch bewegten Sechzigerjahre.
Mit wachem Blick und analytischer Klarheit vermochte er die Zeichen der Zeit zu erkennen und benennen:
„J.v.Groelings analytische Art, sich zeitgenössisch mit dem zeitgenössischen Theater auseinanderzusetzen, lässt auf eine gründliche und vielseitige Ausbildung schließen: Nach dem Besuch der Schauspielschule in Dresden“ – schreibt die Eßlinger Zeitung in ihrer Ausgabe vom 13. November 1962 – „sowie dem Studium der Theaterwissenschaft in Dresden, München und Hamburg“, begann von Groeling seine Theaterlaufbahn als Regieassistent und Schauspieler am Deutschen Schauspielhaus Hamburg. Die weiteren Stationen: Nordfriesisches Landestheater auf Sylt, Synchronarbeiten in München, Gastspielverpflichtungen, dann die Städtische Bühne Ulm, Schauspieler, Chefdramaturg, Regisseur und stellvertretender Intendant nach dem frühen Tod des Ulmer Intendanten Peter Wackernagel (1913 – 1958). Schließlich kommissarischer Intendant in Ulm.
Dann von 1959 bis 1963 Intendant der Landesbühne Schleswig-Holstein, einem Dreispartentheater. Am 11. November 1962 wird er (einstimmig) zum Nachfolger von Wilhelm List-Diehl gewählt und verspricht: „Auf jeden Fall werde ich Oper und Operette weiterpflegen.“
Besucher der WLB und der zahlreichen Abstecherorte mochten das Versprechen mit Genugtuung aufgenommen haben. Doch schon von Groelings Nachfolger, Elert Bode, sollte mit dieser Tradition endgültig brechen. Soprane und Tenöre sollten auf der Bühne verstummen, und der eigens erweitere Orchestergraben sollte ausgedient haben und künftig anderen Zwecken vorbehalten bleiben. Aber noch sangen und spielten sie: in der Saison 1964/65 Mozarts „Così fan tutte“, „Die Fledermaus“ von Johann Strauss, Künnekes Operette „Der Vetter von Dingsda“, jeweils geleitet von Werner Krause, dem hauptamtlichen und langjährigen Kapellmeister seit Kriegsende. „Der Freischütz“ folgte in der Spielzeit 1965/66, und der langjährige Kapellmeister und Musikdirektor der WLB, Werner Krause, verabschiedete sich 1967/68 mit Lortzings „Wildschütz“, dem „Zigeunerbaron“ und der Uraufführung von „Geliebte kleine Stadt“, einer „kleinen Operette“ von Gunther R. Eggerth. Hatte Joachim von Groeling zu Beginn der Spielzeit 1963/64 sein Programm noch mit einem allgemeinen Satz umrissen: „Kein Gefälligkeits- und Modetheater, auch kein Routinetheater, sondern poetisch-dramatisches Theater, erfindungsreiches Theater, möglichst gutes Theater!“, schlugen sich zum Ende seiner Zeit in Esslingen seine gesammelten Erfahrungen entschieden differenzierter nieder.
Wir, das heißt die gegenwärtige Leitung der Württembergischen Landesbühne, sind jedoch der Ansicht, daß es nicht in erster Linie Aufgabe des Theaters ist, als Plattform für politische Forderungen oder gesellschaftliche Revolutionen zu dienen. Wohl aber ist es seit alters her eine seiner wesensgemäßen Aufgaben, dem Menschen zu helfen, sich selbst und seine Umwelt zu erkennen und freier zu werden von Vorurteilen und Denkklischees. Das aber gelingt dem Theater nicht durch Verkündung noch so idealistischer Thesen, sondern durch Spiel. In den bisher sechs Jahren meiner Intendantenarbeit in Esslingen wurde deshalb in der Hauptsache denjenigen Autoren und Stücken Vorrang eingeräumt, die den Schauspielern Gelegenheit zur Entfaltung im Spiel und den Zuschauern (nicht „Zuhörern“!) Gelegenheit zur Entfaltung ihrer eigenen Fantasie geben. Und was das gesprochene Wort angeht: statt platter oder abstrakter theoretischer Formulierungen ziehen wir sinnvolle und sinnliche, also sogenannte poetische Texte, ob alter oder moderner Autoren, vor.
Modern ist ein Theater dadurch, daß es den Autoren seiner Zeit einen größeren Raum einräumt, daß es ferner in alten Werken die für die Gegenwart bedeutsameren Aspekte betont, und schließlich dadurch, daß es für die Wiedergabe neue, nicht ausgetretene und eingewöhnte Mittel benutzt. Das heißt z.B. im Bühnenbild möglichst viel Spielraum für das Mitdenken und Nachdenken des Publikums. Leere Räume sind oft der wichtigste Teil der Dialoge. Wir leben in unserer Zeit und in diesem Land. „Man kann hier zwar herumlaufen, seine Richtung ändern und herumpoltern, aber jede Bewegung findet innerhalb einer größeren statt, die einen so unerbittlich fortträgt wie Wind und Strömung.“
(Rosenkranz und Güldenstern)
Die Bewegung, die uns unausweichlich fortträgt, ist der fortschreitende Demokratisierungsprozeß. Er durchdringt auch uns Theaterleute und unsere Arbeit. Das fängt im Inneren des Theaters an und wird sich in unserem Verhältnis zum Publikum fortsetzen. Konnte z.B. der verehrte Intendant Haaß-Berkow sein Ensemble noch als väterlicher Erzieher prägen und damit eine für seine Zeit und Arbeit wundervolle Ausstrahlung erreichen, und konnte noch mein Vorgänger List-Diehl, gewissermaßen als Petruccio, „sein“ Theater als widerspenstige Geliebte zähmen, aus einem Theater-Eros heraus, der uns so reizvoll aus seinem Bericht in dieser Schrift entgegenspringt, so ist Theaterführung heute mehr denn je eine Aufgabe, die im Sinne der fortschreitenden Demokratisierung einen primus inter pares als Theaterleiter erfordert. Die Zeit der Autoritäten geht wie in allen Bereichen so auch im Theater ihrem Ende langsam entgegen. Langsam!
(Joachim von Groeling, zitiert nach Festschrift „50 Jahre WLB 1919-1969“)
Das war modern gedacht und reichte weit über tradierte Definitionen dessen hinaus, was Schauspiel kann, darf und soll. Wie vehement von Groelings Traditionsbegriff sich vom Gestrigen löste und neues Terrain zu erschließen suchte, bewies zum Beispiel sein Spielplan 1964/65. Die Vormoderne ist mit Ibsen, Strindberg und den Expressionisten vertreten, aber nicht minder präsent sind Autoren und Stücke der Gegenwart: „Der Belagerungszustand“ von Albert Camus, „Undine“ von Jean Giraudoux, „Opfer der Pflicht“ von Ionesco, „Die Traurigen“ von Euripides/Sartre, „Das Ende vom Lied“ von Wallis Hall in der Inszenierung Bernd Rademakers und „Zwischenfall in Vichy“ von Arthur Miller. Aber auch Ur- und deutsche Erstaufführungen eroberten die WLB. So etwa im November 1967 „Hotel Racine“ von Michèle Perrein, in deren erster dramatisierter Fassung von insgesamt sechs Romanen sie „mit der französischen Lust an psychologischen Finessen den vielen Schattierungen und Nuancen dessen nach(sann), was man in den zwischenmenschlichen Beziehungen Liebe nennt“
(Hermann Dannecker).
Joachim von Groelings Ankündigung, von 1963/64 an „eine Studiobühne einzurichten“, besaß vorläufig die Bedeutung einer Marginalie, kündigte aber in Wirklichkeit einschneidende Veränderungen im Selbstverständnis der Württembergischen Landesbühne an. Die nach neuen Formen von Interpretation, Gestaltung und Darstellung suchende zeitgenössische Theaterbühne wich der klassischen bürgerlichen Bühne aus und wanderte ab in den Untergrund, in die Katakomben, oder, wenn man so will, in eine subkutane Diaspora. Und gerade dort, wo man Schwellenangst kaum kennt, wurden, zumindest eine Zeit lang, heterogenste Gruppen erfasst. „Was bislang den Bildungsbürgern vorbehalten war“ – schreibt Hartmut Krug, deutscher Theaterkritiker, Publizist und ehemaliges Mitglied der Jury des Berliner Theatertreffens – „sollte auch anderen Zielgruppen zugänglich gemacht werden: Für die 68er hieß Theater auch Politik (…). Für die Studentenbewegung war das Theater ein wichtiges Medium, das politisiert und demokratisiert werden musste. Von Beginn an gab es zwei sich ergänzende Bewegungen: Man ging hinaus aus dem Theater mit Happening, Agitprop, und Mitspieltheater, und man suchte die Verhältnisse in den Theatern zu verändern und neue Themen zu finden. Nicht mehr nur der Bildungsbürger, sondern auch bildungsferne Zielgruppen waren gemeint. Es entstanden Lehrlings- und Kindertheater, und es gab Frauen- und Behindertentheater. Die nachhaltigste Langzeitwirkung gab es beim Kindertheater, wo die Berliner Rote Grütze oder das Grips am Anfang der Entwicklung einer reichen Kindertheaterlandschaft standen.“
Die Ziele des Esslinger Kellertheaters beschreibt von Groeling so: „Einmal: Bekanntschaft zu vermitteln mit den wichtigsten Werken der neuesten Theaterliteratur, mit den Hauptwerken und Strömungen der Avantgarde, mit dem wohlgezielten Experiment. Zum zweiten: Das Ensemble durch neue, ungewohnte Aufgaben frisch, beweglich und vielseitig aufgeschlossen zu erhalten, eine Absicht, die auch dem übrigen Repertoire zu Gute kommen wird“.
Zweigleisig also fuhr jetzt die WLB, auf der Schauspielbühne in der Strohstraße wurden Stücke der Vormoderne, Expressionisten und Gegenwartsautoren aufgeführt. Währenddessen wurden von Groeling und Bernd Rademaker, Oberspielleiter und Chefdramaturg, fündig. In den steinernen Gewölben der alten Weingärtnerstadt, Strohstrasse 34, eröffnete am 1. März 1964 die Studiobühne mit Eugène Ionescos tragischer Farce „Die Stühle“ ihr Kellertheater. Ein programmatisches Schlüsselwerk der Moderne, vergleichbar mit Becketts „Warten auf Godot“. Dinge, nicht Menschen, spielten die Hauptrolle, also die leeren Stühle selbst; für Ionesco bedeuten sie „die Abwesenheit der Menschen, die Abwesenheit des Kaisers, die Abwesenheit Gottes, die Abwesenheit der Materie, die Unwirklichkeit der Welt, die metaphysische Leere; das Thema des Stückes ist das Nichts (…)“,
schreibt der französisch-rumänische Autor in einem Brief an seinen Regisseur Sylvain Dhomme.
Aus technischen und sanitären Gründen verließ nach einjähriger Spielzeit die Studiobühne ihr erstes Domizil und bezog in der Webergasse 3 unterm Tonnengewölbe des Schaufele-Hauses ihr neues Kellertheater. Eigens für Studiozwecke umgebaut und eingerichtet, wurde es von der WLB für zunächst fünf Jahre gemietet. Die Eröffnungspremiere fand am 11. April 1965 statt mit James Saunders’ Stück „Ein Eremit wird entdeckt“, inszeniert von Werner Ahlers, Leiter des künstlerischen Betriebsbüros, Spielleiter und Stellvertreter des Intendanten.
Die Experimentier- und Studiobühne war im Zentrum von Esslingen angekommen: Ganz in der Nähe, im alten Keller in der Webergasse 22, residiert seit 1957 der Jazzkeller Esslingen, einer der renommiertesten Clubs in Deutschland; bis zum Rathaus sind es nur wenige Schritte, und für ein für die künstlerische Moderne aufgeschlossenes Esslinger Publikum stand außerdem in dieser Zeit die 1965 in einem umgebauten Sarglager in der Bachstraße 32 eröffnete „(op) art galerie“ des jungen, aus Ulm stammenden Galeristen Hans Mayer zur Verfügung. Jetzt waren Einmischungen nicht nur erlaubt, sondern ausdrücklich erwünscht. Das Publikum avancierte zum gleichberechtigten Bühnenpartner.
„In den darauffolgenden zwei Jahren kamen im Studio zum Teil vielbeklatschte Aufführungen heraus, Becketts „Warten auf Godot“. „Ein Eremit wird entdeckt“ von James Saunders, „Der unbekannte General“ von Obaldia und andere mehr. Das experimentelle Theater hatte sich einen festen Platz in Esslingen erobert, und auch in einigen Städten des Spielgebiets begann man sich für die Studio-Stücke zu interessieren.“
(Bernd Rademaker)
Aber auch das Stuttgarter Publikum fand zunehmend Gefallen an den Spielplänen der Esslinger Studio-Bühne, so sehr, dass in manchen Vorstellungen 50 Prozent der Plätze von Theaterinteressierten aus der benachbarten Landeshauptstadt belegt waren – eine schmeichelhafte Bilanz für Joachim von Groeling, jedoch ein Signal dafür, zunächst einmal für Esslingen und die Abstecherorte eine breitere Basis für das Verständnis des zeitgenössischen Theaters zu schaffen. Für die Spielzeit 1966/67 wurden erstmals drei Studio-Inszenierungen fest geplant. Mit „Ein Phoenix zuviel“ von Christopher Fry, Ionescos „Opfer der Pflicht“ und Sartres „Geschlossene Gesellschaft“. „Mit diesem Spielplan“, so Bernd Rademaker, „gelang dem Studio-Theater der Durchbruch nicht nur in Esslingen, sondern auch in einer Vielzahl von Städten im ganzen Spielgebiet der Württembergischen Landesbühne“.
Zunächst noch begrenzt auf Aufführungen der Studio-Bühne, eroberte ein Novum schließlich auch das „Große Haus“ und mit ihm auch die Gastspiele im Land: Gespräche und Diskussionen, anberaumt jeweils nach Ende der Vorstellung, zwischen Schauspielern, der Dramaturgie und den Theaterbesuchern. Dabei standen Inhalt und Form nicht weniger zur Disposition als der soziale und politische Stellenwert der modernen Stücke. Das Echo war enorm: Nicht wenige Städte „machen die anschließende Diskussion zur Bedingung einer Aufführung“, so in Backnang, wo sich engagierte Initiativgruppen von Lehrern und Schülern bildeten.
So immens war der Einfluss des sich kritisch einmischenden Publikums, dass der „relativ konventionelle Spielplan durch einen wesentlich kühneren“ ersetzt werden musste.
Jahre vor der Erprobung und Einführung neuer Leitungs- und Mitsprachemodelle, etwa an den Bühnen in Ulm, Frankfurt und Berlin, war die Württembergische Landesbühne eine Nasenlänge voraus und sammelte Erfahrungen in Sachen Mitsprache und Mitbestimmung. Eindrücklichstes Beispiel lieferte Schorndorf, wo die gesamte Bevölkerung zum Theatergespräch eingeladen wurde und durch „Mehrheitsentscheid den Spielplan in ihrer Stadt“ bestimmte. Ein weiteres Novum: der endgültige Verzicht auf die Operette. Sie durfte zwar weiter existieren, jedoch nur noch außerhalb des Theater-Abonnements.
„Unser Theater ärgert durch Provokationen und versöhnt wieder durch Poesie, Unterhaltung und … Operette!“, so Joachim von Groeling (in Festschrift „50 Jahre WLB 1919-1969“).
Ermutigt durch den zunächst schwankenden, schließlich wachsenden Erfolg des Studios engagierte von Groeling nicht nur einen zweiten Dramaturgen, sondern wagt die Auseinandersetzung mit dem zeitgenössischen jungen Theater: Jetzt stand das Beckett-Stück „Glückliche Tage“ auf dem Spielplan, vor allem Peter Handkes „Kaspar Hauser“, eine alle bisherigen Konventionen sprengende „Sprachfolter“ (Bernd Rademaker), und dann, als letztes Stück in der Spielzeit 1968/69, die skandalumwitterte Aufführung von „Meine Mutter macht Mist mit mir“, verfasst von der jungen britischen Autorin Ann Jellicoe. Ein nach allen Seiten hin biegsames, an- und eingreifbares Stück ohne vorbestimmten Inhalt und Verlauf. Es bestand kein Unterschied mehr zwischen Schauspieler und Publikum, die durch Zuspruch und Einspruch das Spiel steuerten: Anfang und Ende standen in den Sternen: „Entfesseltes Theater in einem entfesselten Publikum. Die Schauspieler lernten und litten viel“.
* * *
Zum Abschied – 1970
„So gewiß wie die Schöpfung selbst, muß die lebendige Kunst böse sein, verbreiternd, vertiefend, verdeutlichend, abwandelnd, modern, unsittlich, frech. Und deshalb wird jede Kunstleistung in der Vergangenheit gesichert sein, in der Gegenwart aber die Norm verletzen. Sie trägt in ihren Plänen die Verantwortung für das Zukünftige. Doch ist sie nicht verantwortlich zu machen, wenn andere Machtfaktoren ihre Planungen verwerfen. Sie bricht zusammen vor den Keulenschlägen der Zensur.“
(Hans Henny Jahnn)
Diese Worte des Dichters und Theatermenschen Hans Henny Jahnn sollen als Zeugnis stehen dafür, daß jede Kunstausübung der Gegenwart dienen und „die Verantwortung für das Zukünftige“ in ihren Plänen tragen muß. Auch das Theater kann nicht umhin, „die Norm zu verletzen“, Anstoß zu erregen, zu provozieren. Die sieben Jahre meiner Intendanz an der Württembergischen Landesbühne konnten und wollten dieser Notwendigkeit nicht ausweichen. Darum mußte die gefährliche Liebe zum Altgewohnten – in uns Theaterleuten und in unserem Publikum – mit Beharrlichkeit bekämpft werden. Deshalb mußte ein Studio begründet werden, dessen Experimentierlust Schauspieler und Besucher zu neuem Ausdruck zwang (die Schauspieler als Agierende – die Besucher als Reagierende). Deshalb mußte auch der breite Abonnenten-Spielplan immer wieder ausbrechen in Stücke und Spielarten des Nichterprobten, Ungewohnten, Fragwürdigen.
Darum mußte eine dynamische Dramaturgie aufgebaut werden, die aus dem stillen Fachreferenten-Dasein in schöpferische Kraft und Umweltwirksamkeit überging, wie das in den letzten vier Spielzeiten hervorragend durch Bernd Rademaker erfolgte und seit dieser Spielzeit von Volkmar Clauß mitgetragen wird.Das Erbauungs- und Unterhaltungstheater genügt heute weniger denn je. Die „Provinz“, die es nur geographisch noch gibt, befindet sich seit langem im Aufbruch. Die Auseinandersetzungen in der Gesellschaft finden allerorten – also auch in den Städten unseres Spielgebietes – statt und wollen und sollen sich im Theater spiegeln. Die „Keulenschläge der Zensur“ habe ich während meiner siebenjährigen Tätigkeit nicht zu spüren bekommen, wohl aber gelegentlich die der Presse und einzelner Besucher. Gottseidank, denn nichts ist lähmender als gleichgültiges Wohlwollen. Im Gegenteil, ich schulde dem Parlament, der Landesregierung und den Stadtvätern – also unseren Geldgebern der öffentlichen Hand – Dank, daß sie die künstlerische Freiheit des Grundgesetzes wahrten, auch wenn das Theater gelegentlich „die Norm verletzen mußte“.
Unbestritten ist, daß das Theater auch unterhalten soll – mit oder ohne Operette – und Stücke wie diese sollen Bestandteil des lebendigen Theaters bleiben – aber eben „Teil“.
In den vergangenen sieben Jahren wurden Mitsprache der Spielerorte (in Hearings), der Lehrerschaften (in Meetings), des Publikums (in Diskussionen und Fragebogenaktionen) und der Schauspieler (in betriebseigenen Ensemblegesprächen) gepflegt; ein Weg, den weiterzugehen sich anbietet, weil er Theater vor der Gefahr der Isolation und der Selbstzufriedenheit bewahrt und es der Gesellschaft offen hält.
Ich verabschiede mich mit einem Dank an alle, die meiner Arbeit zugestimmt oder widersprochen haben. Ich bedanke mich nicht zuletzt bei allen Schauspielern und sonstigen Mitarbeitern des Theaters, die meine Arbeit ermöglicht, mitgestaltet und ergänzt haben. Und ich schließe meine Tätigkeit mit dem Wunsch, daß mein Nachfolger mit dem Ensemble, das zum größten Teil zusammenbleibt, einen möglichst starken Widerhall finden und die Württembergische Landesbühne ein modernes Theatergebäude als Standort in Esslingen bekommen möge!
Joachim von Groeling
(In: Stadttheater Esslingen, Sitz der Württembergischen Landesbühne. Festschrift anlässlich des Neubaus, 1982, S. 105 f.)